Tuol Sleng – Der Genozid der Roten Khmer

Liebe Freunde und Familie,

als Stadt hat Phnom Penh leider nicht ganz so viel zu bieten. Natürlich gibt es viele Nachtmärkte und den Königspalast zu bestaunen, aber deswegen sind wir nicht in die Stadt gekommen. Kambodscha hat vor 50 Jahren ein sehr schlimmes Ereignis in seiner eigenen Geschichte erlebt, und das wird in Phnom Penh sehr gut aufgearbeitet. Ein Ereignis, über das man in Deutschland nichts lernt und dabei starb in diesen 4 Jahren des Pol Pot Regimes ¼ der gesamten Bevölkerung Kambodschas.

Also, lehnt euch zurück, ich werde nun meine neu gelernten Geschichtskenntnisse aus der jüngsten Vergangenheit auspacken und warne euch vor: Es wird sehr schlimm werden. Triggerwarnung ist hiermit ausgesprochen.

Um den gesamten Konflikt zu erklären, reicht dieser Blogbeitrag nicht aus. Aber um es grob zu umreißen:

Ab 1863 war Kambodscha ein französisches Protektorat, das formell vor Annexionen durch Siam (Thailand) und Vietnam schützte, jedoch die wirtschaftliche und kulturelle Eigenständigkeit stark einschränkte. Nach der Unabhängigkeit 1953 etablierte König Norodom Sihanouk ein neutrales, autoritäres Regime, das versuchte, Kambodscha aus dem Vietnamkrieg herauszuhalten. 1970 wurde Sihanouk durch General Lon Nol gestürzt, der eine pro-westliche Regierung gründete, jedoch das Land weiter destabilisierte. Massive US-Bombardierungen während des Vietnamkriegs und die Ineffizienz der Lon-Nol-Regierung trieben die Bevölkerung den kommunistischen Khmer Rouge (Roten Khmer) zu, die 1975 unter Pol Pot die Macht übernahmen und ein totalitäres Regime errichteten.

Seit 1970 hatte Kambodscha demnach unter einem blutigen Bürgerkrieg gelitten, der unter anderem auch zu massiven Hungersnöten geführt hatte. Als die Khmer Rouge schließlich die Macht nach und nach übernahmen und in Phnom Penh einmarschierten, reagierten die Einwohner mit Jubel und Freude auf die „Befreiungsarmee“. Viele der Einwohner waren desillusioniert von der korrupten Lon-Nol-Regierung und sahen die Khmer Rouge als Befreier, die Frieden und soziale Gerechtigkeit bringen könnten. Zudem hatten Propaganda und die Hoffnung auf ein Ende der US-Bombardierungen die Bewegung in den Augen vieler positiv erscheinen lassen.

Was jedoch nach dem Einmarsch der Roten Khmer passierte, ist erschreckend. Das Durchschnittsalter der Armeesoldaten betrug etwa 13–15 Jahre. Mit der Behauptung, ein Bombenangriff der Amerikaner sei in wenigen Stunden zu erwarten, zwangen die Roten Khmer die 2 Millionen Einwohner innerhalb kürzester Zeit, die Stadt zu verlassen. Nur das Nötigste sollte mitgenommen werden; es hieß, man könne in wenigen Tagen zurückkehren. Wer sich weigerte, wurde an Ort und Stelle erschossen. Nach einer Woche war Phnom Penh eine Geisterstadt.

Die Vision der Roten Khmer zielte auf die Wiedererrichtung eines glorreichen Angkor-Reiches ab, mit der Rückgewinnung verlorener Gebiete und der Schaffung eines autarken, kommunistischen Bauernstaates. Zur Umsetzung isolierten sie das Land vollständig vom Ausland, schlossen die Grenzen, zerstörten Kommunikationsmittel und trennten die Menschen voneinander, indem sie Stadtbewohner aufs Land deportierten, Dörfer isolierten und Familien auseinanderbrachen. Zwangsehen, die Überwachung von Kindern und Versammlungsverbote wurden eingeführt, während Religion verboten und alle sozialen Unterschiede aufgehoben wurden. Einheitliche Kleidung und politische Indoktrination prägten den Alltag, um völlige Kontrolle und Gleichschaltung zu erreichen.

Die Roten Khmer vereinheitlichten das Justizsystem, indem sie alle Strafen außer der Todesstrafe abschafften. Diese wurde zunächst durch Erschießen vollzogen, später jedoch aus Kostengründen durch Ersticken mit Plastiktüten oder Erschlagen mit Feldwerkzeugen ersetzt. Die Leichen wurden auf Feldern als Dünger verwendet. Anfangs erfolgten Urteile in Versammlungen, bei denen Verwarnungen ausgesprochen wurden; nach einer Verwarnung folgte jedoch unmittelbar die Todesstrafe. Später wurden Hinrichtungen ohne Vorwarnung durchgeführt. Gefängnisse wie Tuol Sleng dienten der Folter von Gefangenen, um Geständnisse zu erzwingen, oft mit extrem grausamen Methoden. Schwangeren wurden die Föten entrissen, und Kinder wurden vor den Augen ihrer Eltern getötet.

Tuol Sleng. Eine frühere Grundschule diente während dieser grauenhaften Zeit als Gefängnis und trug den Namen „S-21“.
Heute ist sie ein Genozid-Museum, das Sascha und ich besuchten. Das Grauen, das an diesem Ort stattgefunden hat, ist noch immer sichtbar. Es ist erschreckend, was Menschen einander antun können.

Das Gelände befindet sich mitten in der Innenstadt und war eines der berüchtigtsten von insgesamt 196 Gefängnissen in ganz Kambodscha. In Tuol Sleng wurden laut Schätzungen etwa 20.000 Menschen inhaftiert. Die vier Gebäude wurden von Elektrozäunen umgeben, und die Klassenzimmer wurden zu Gefängniszellen und Folterkammern umfunktioniert. Stacheldrahtgeflechte vor den Außengängen der einzelnen Gebäude sollten verzweifelte Gefangene davon abhalten, Selbstmord zu begehen.

Wer nach S-21 gebracht wurde, galt automatisch als schuldig. Von der Gründung bis zur Befreiung des Gefängnisses durch die vietnamesischen Streitkräfte zählten zu den Opfern Zivilisten, Studierende, Intellektuelle, zurückgekehrte Exilkambodschaner, buddhistische Mönche und einige Ausländer. Besonders wurde hierbei auf dem Sprichwort geachtet „Um das Unkraut zu vernichten, muss man auch die Wurzel ausreißen.“ was dazu führte, dass ganze Familien einschließlich der Kinder ausgerottet wurden, um der Sorge zu entgehen, dass jemand aus späteren Generationen Rache üben könnte.

Die Klassenräume, die als Folterkammern genutzt wurden, um die Geständnisse der Inhaftierten zu erzwingen, sind erdrückend. In allen Kammern steht jeweils ein einzelnes Bett, an Wänden, Decken und Böden sind Blutspuren zu sehen, die von grauenhaften Folterpraktiken zeugen. Andere ehemalige Klassenräume dienten als Schlafsäle, Zellen wurden aus groben Lehmblöcken zusammengebaut, in 1 auf 2 Metern Zellern wurden teilweise dennoch bis zu 4 Menschen gleichzeitig inhaftiert.


Heute stehen in den Räumen riesige Wände, die jedes einzelne Gesicht abbilden, von Inhaftierten aber auch den über 1700 Beschäftigten, die in den 4 Jahren für das Morden und Foltern der Insassen verantwortlich waren.

In den ersten Monaten wurden die Insassen direkt auf dem Gelände von S-21 getötet. Doch 1976/77 wurde entschieden, den Hinrichtungsort nach Choeung Ek zu verlegen, um das Risiko von Seuchenausbrüchen zu minimieren. Von da an wurden die Gefangenen auf den sogenannten Killing Fields von Choeung Ek außerhalb der Stadt mit Schaufeln erschlagen oder durch Durchschneiden der Kehlen getötet, um Munition zu sparen und Schusslärm zu vermeiden.

Als die Vietnamesen 1979 in Phnom Penh einmarschierten, versuchten die Roten Khmer, noch viele Akten (die sie penibel über jeden einzelnen Insassen geführt hatten) zu vernichten. In 14 der Folterkammern wurden die Leichen der gefolterten Menschen zurückgelassen, mit durchgeschnittener Kehle. Die Vietnamesen waren geschockt, und von den rund 20.000 Insassen, die dort über vier Jahre inhaftiert gewesen waren, wurden am Tag der Befreiung lediglich vier Kinder lebend gefunden. Diese hatten sich in der Hektik des Abzugs der Roten Khmer unter stinkenden, alten Klamotten versteckt.

Insgesamt überlebten nur sieben Erwachsene das Gefängnis S-21, weil sie sich als nützlich erwiesen hatten – unter anderem einer als Künstler, der den Machthaber Pol Pot porträtierte, ein anderer als Maschinenbauer.

Dieser Maschinenbauer saß uns bei unserem Besuch des Gefängnisses plötzlich gegenüber. Er kommt noch regelmäßig mit einem der überlebenden Kinder (mittlerweile 59 Jahre) zurück in das Gefängnis und klärt über diese Zeit auf.

Als ich verstand, wer er war, kamen mir die Tränen. Wie stark muss man sein, regelmäßig an den Ort seiner Folter zurückzukehren, um Schulkindern und Touristen zu erzählen, wie grauenhaft es vor weniger als 50 Jahren in diesem Land zuging? Neben seinem Gartenstuhl und dem kleinen Tisch steht ein großes Plakat, auf dem sein Buch abgebildet ist, mit dem eingehenden Zitat:

„Zuerst schossen sie auf meine Frau, die vorne mit den anderen Frauen marschierte. Sie schrie: ‚Bitte lauf weg, sie töten mich jetzt‘. Ich hörte meinen Sohn weinen, sie schossen erneut und töteten meinen Sohn. Wenn ich schlafe, kann ich immer noch ihre Gesichter sehen, und ich denke jeden Tag an sie.“
Pol Pot survivor prepares to tell horrific tale, Erlebnisse Chum Meys

Gemeinsam mit Vann Nath, einem weiteren Überlebenden von Tuol Sleng (S-21), engagiert sich Chum Mey seitdem für die Dokumentation und das Gedenken an die Ereignisse, unter anderem in der Dokumentation S-21: Die Todesmaschine der Roten Khmer. Zudem hat er als Zeuge der Anklage bei den Gerichtsverhandlungen gegen die noch lebenden Führer des Terrorregimes eine wichtige Rolle gespielt und spielt diese weiterhin.

Sascha und ich wanderten mit einem Audio-Guide durch das Gefängnis, das uns vier Stunden lang in Atem hielt. Mehr als einmal stand ich weinend vor Räumen oder Bildern an der Wand, die das Schicksal der Menschen erklärten. Zuletzt hatte mich eine ähnliche Übelkeit, Schrecken und Grauen ergriffen, als ich mit meinen Eltern Auschwitz besucht hatte.

Parallelen zwischen diesen beiden historisch grausamen Ereignissen können zwar gezogen werden, doch steht beides für sich allein.

Die Killing Fields kann man ebenfalls besichtigen, sie liegen etwa 45 Minuten vom Gefängnis entfernt, doch nach diesem Grauen konnte ich mir das nicht mehr antun. Dort kann man die ausgegrabenen Massengräber, die Skelette der Verstorbenen sowie den berüchtigten Baum sehen, an dem Menschen – und zu meinem größten Entsetzen auch kleine Babys – erschlagen wurden, um anschließend achtlos in das Massengrab befördert zu werden. Ein Ort, den ich nicht mehr ertragen konnte und wollte.

Wie ich vorhin schon gemeint hatte, ist es schrecklich, was Menschen einander antun können. Umso wichtiger ist jedoch auch die Aufklärung, die in Kambodscha in großem Stil unterstützt wird. Wenn man Tuol Sleng besucht hat, wird man dazu angehalten nach seinem Besuch seine Kenntnisse zu teilen und als Botschafter des Friedens zu agieren.

Unter anderem hilft auch diese Tafel bei der Aufklärung auf dem Gelände der alten Schule.

Das Thema, die Geschichte und dieser Ort haben Sascha und mich sehr mitgenommen, an diesem Nachmittag wollte keine wirkliche Freude mehr in uns aufkommen. Mit ein wenig Erleichterung blickten wir deshalb unserem nächsten Ziel entgegen zu dem wir am nächsten Morgen aufbrechen sollten: Die Ruinen von Angkor.

Wir hoffen dieser Beitrag hat euch nicht zu sehr mitgenommen, wir empfanden es jedoch als wichtig dieses Thema in einem eigenen Beitrag zu erläutern und ein wenig Geschichte über ein für euch vielleicht fremdes Land zu teilen.

Bis zum nächsten Blogpost, der letzte aus Kambodscha!

Liebe Grüße aus Vietnam

Jessi und Sascha