Kyoto – Die Schattenseiten des Massentourismus

Konichiwa, liebe Freunde und Familie,

Wie im vorherigen Beitrag erwähnt, hatten wir uns für Kyoto ein Hotel gesucht, das hier Ryokan genannt wird. Diese traditionelle Unterkunft fühlt sich an wie eine kleine Zeitreise: Der Boden ist mit weichen Tatami-Matten ausgelegt, auf denen dünne Kaltschaum-Matratzen liegen. Theoretisch kann man morgens alles zusammenrollen, um den Raum tagsüber anderweitig zu nutzen – ein simples, aber charmantes Konzept. Unser Zimmer war minimalistisch eingerichtet, mit einem kleinen Tisch und einem Stuhl ohne Beine. Irgendwie wirkte alles so gemütlich und fast schon puppenhausartig – auf eine sehr niedliche, japanische Weise.

Das Hotel lag etwa 30 Minuten zu Fuß vom Bahnhof in Kyoto entfernt, und bei dem guten Wetter, das wir an diesem Tag genießen konnten, entschieden wir uns, den Weg zu laufen – wenn auch ohne große Motivation. Die letzten Tage hatten uns ziemlich ausgelaugt und erschöpft. Mit dem knapp 10 kg schweren Rucksack auf dem Rücken war das Ganze doppelt so anstrengend.

Vom Hotel aus ging es dann zu unsere erste Station in Kyoto: der berühmte Fushimi Inari-Taisha, der Inari-Schrein. Schon beim Betreten spürte man, dass dies ein besonderer Ort war. Die endlose Reihe an leuchtend roten Torii-Toren (ca. 10.000) zog sich wie ein mystischer Pfad den Berg hinauf.

Wir erreichten den Schrein in den Abendstunden, und die Atmosphäre war grundsätzlich sehr tiefgreifend. Die tiefrote Farbe der Bögen schien im warmen Licht der Laternen fast zu glühen. Ein sanfter Wind trug das leise Rauschen der Blätter mit sich, während sich die Schatten zwischen den Torii bewegten. Doch so schön dieser Moment auch war – die Stille, die wir uns gewünscht hatten, blieb aus.

Trotz der einsetzenden Dunkelheit war der Ort noch immer voller Menschen. Egal, wie weit wir liefen, es war unmöglich, eine ruhige Ecke für sich zu finden. Überall posierten Touristen, hielten den gesamten Weg auf, um das perfekte Foto zu schießen. Immer wieder mussten wir stehen bleiben, weil jemand vor uns plötzlich innehielt, um sich in Szene zu setzen – als wäre dieser heilige Ort nichts weiter als eine Kulisse für Social Media.

Der Inari-Schrein ist ein echter Touristenmagnet. Überall sieht man Schilder mit der Aufschrift: “Bitte kein Essen und Trinken – dies ist ein heiliger Ort. Besinnt euch auf das Spirituelle an diesem Ort.” Das lässt tief blicken, was Touristen hier wohl schon alles angestellt haben.

Sascha und mir verging schnell die Lust. Wir hatten gehofft, diesen Ort in Ruhe auf uns wirken lassen zu können, wollten die mystische Energie spüren, die diese unzähligen Bögen so einzigartig macht. Doch das war kaum möglich. Es fühlte sich an, als wären wir in einem riesigen, niemals endenden Fotoshooting gefangen, in dem jeder versuchte, sein Bild noch perfekter als das vorherige zu gestalten.

Natürlich wollten auch wir Erinnerungen festhalten – aber nicht auf Kosten des Moments. Wir sehnten uns nach einem kurzen Augenblick der Stille, nach einem Moment, in dem wir einfach nur stehen, tief durchatmen und die besondere Atmosphäre genießen konnten. Doch dieser Moment kam nicht. Und so machten wir uns schließlich auf den Rückweg – enttäuscht, frustriert und mit dem Gefühl, dass dieser magische Ort unter dem Gewicht seiner eigenen Beliebtheit fast zu ersticken drohte. (Ich bin ehrlich, wir haben kaum Fotos hier gemacht und auch die Menschen an diesem Ort nicht fotografiert, sondern versucht den Ort zu genießen).

Leider wird uns in Japan noch häufiger auffallen, dass viele Orte dem Instagram-Tourismus komplett verfallen sind und dadurch ihre ursprüngliche Schönheit verloren haben. In der Dunkelheit und der ständigen Unruhe um uns herum gingen wir schließlich zurück zum Hotel – so machte das für uns einfach keinen Sinn.

Die Freundin meiner Mutter, Yuri, hatte mich bereits vorgewarnt: „Kyoto ist komplett überlaufen. Wenn man etwas von der Stadt und den Tempeln sehen will, muss man früh raus und hoffen, dass nicht zu viele andere die gleiche Idee haben.“
Wir versuchten, uns das zu Herzen zu nehmen – aber irgendwie schafften wir es einfach nicht, früh genug aus dem Bett zu kommen.

Unser Hotel hatte kein Frühstück – so wie eigentlich alle Hotels außer das in Tokio. Das hieß, wir deckten uns jeden Tag im Supermarkt mit Toast, Schokoladenbrötchen und Bananen ein, dazu Saft und Wasserflaschen. Unsere Frühstücke fielen also eher einseitig aus, dafür versuchten wir, es uns mittags und abends gut gehen zu lassen. Wobei das Mittagessen oft nur aus Sandwiches vom Supermarkt bestand und das Abendessen dann in einem Restaurant stattfand. Aber da muss man eben durch – irgendwo muss man ja aufs Geld achten. Jeden Tag 20 bis 30 € für ein Restaurantessen auszugeben, hätte unseren Budgetrahmen gesprengt…

Yuri hatte mir einige Ideen geschickt, was Sascha und ich in Kyoto unternehmen könnten, aber auch Sascha hatte sich etwas herausgesucht. In Kyoto gibt es einen Uhrenhersteller, den er richtig toll findet. Zu unserer Verlobung letzten Sommer habe ich ihm eine Uhr genau dieser Marke gekauft, aber wir wollten es uns nicht nehmen lassen, einmal selbst in die Manufaktur hineinzuschauen.

Der Laden war klein und sehr persönlich gestaltet. Die Verkäufer waren äußerst aufmerksam und hilfsbereit und zeigten uns die verschiedensten Modelle. Wir hatten bereits im Vorfeld Geld dafür zurückgelegt, denn wir hatten beschlossen, uns hier als Erinnerung an unsere viermonatige Reise jeweils eine Uhr zu kaufen. Man konnte sich hier ganz individuell die Hülle, das Ziffernblatt, das Armband und die passende Schnalle aussuchen und dann alles zusammenbauen lassen. Sogar eine Gravur war möglich – aber da Sascha sich für ein Modell mit offenem Gehäuse entschied, fiel das bei ihm weg. Und ich? Ich war in dem Moment einfach zu unkreativ, um mir etwas Passendes einfallen zu lassen.

Mit einer schönen Box und einem Transportetui in der Tasche ging es dann weiter durch Kyoto.
Irgendwann führten uns unsere Wege durch die Altstadtgassen, für die Kyoto so bekannt ist. Hier hätten wir wirklich auf Yuri hören sollen und früh morgens in diesen Teil der Stadt gehen müssen.

Wir standen plötzlich mitten in einer Traube aus Touristen, die sich durch die engen Gassen stauten. Es war komplett überlaufen, viel zu viel los – und was mich am meisten enttäuschte: Alles war nur noch auf Kommerz ausgelegt. Laden an Laden reihte sich hier aneinander, aber alle verkauften am Ende das Gleiche. Keine besonderen, individuellen Geschäfte – überall nur die gleichen Souvenirs. Vor der bekannten Pagode waren so viele Menschen, dass man sich regelrecht durchdrücken musste, um überhaupt weiterzukommen. Kyoto, diese Stadt voller Geschichte und Schönheit, fühlte sich in diesem Moment an wie ein überfüllter Jahrmarkt.

Rücksicht nahm hier niemand. Jeder war in seinem eigenen Tunnelblick unterwegs, achtete nur auf sich selbst. Niemand machte mal Platz, wenn man vorbei wollte. Stattdessen blieben sie einfach mitten auf der Straße stehen, als wären sie allein hier. Ein schnelles Foto? Fehlanzeige. Es mussten erst mal 20 Bilder aus jedem erdenklichen Winkel gemacht werden, während sich hinter ihnen eine immer größer werdende Menschenmasse staute.

Es war einfach nur anstrengend. Nur Touristen, überall. Laut, unfreundlich, rücksichtslos. Statt diesen Ort auf sich wirken zu lassen, schien jeder nur auf sein eigenes Erlebnis fokussiert zu sein – oder vielmehr darauf, es später auf Instagram möglichst perfekt zu inszenieren.

Wir waren maßlos enttäuscht. Genervt. Überfordert. Und das Schlimmste? Selbst Sascha und ich fingen an, uns gegenseitig anzuzicken. Wir, die bisher noch keinerlei Streitpunkte auf dieser Reise gehabt haben. Aber diese Reizüberflutung, diese ständige Rücksichtslosigkeit – es zog uns runter. Ich merkte, wie sich eine bleierne Müdigkeit in mir ausbreitete, wie ich von dieser Masse an negativen Eindrücken komplett ausgelaugt war. Enttäuscht und völlig entnervt gingen wir schließlich zurück zum Hotel. Kaum angekommen, ließ ich mich auf die Matratze fallen. Ich musste erst mal eine Runde schlafen – einfach, um diesen Tag hinter mir zu lassen.

Am frühen Abend suchten wir dann einen kleinen Laden für unser Abendessen auf, bevor wir wieder ins Hotel zurückkehrten und einen Film auf dem Laptop anschauten. Irgendwie wollten wir beide nur noch raus aus der Stadt. Kyoto war für uns kein angenehmes Reiseziel, aber wir hatten noch einen ganzen Tag vor uns.

Trotzdem wollten wir der Stadt eine letzte Chance geben. Also standen wir am nächsten Morgen um 6 Uhr auf und liefen gegen 7 Uhr los in die Altstadt. In uns keimte die Hoffnung, dass sie nun leer sein könnte und wir endlich ein wenig authentisches Japan erleben würden.

Es hat sich auf eine gewisse Weise gelohnt – aber irgendwie auch nicht. Wenn sich am Vortag noch tausend Menschen auf dem Platz vor der Pagode gedrängt hatten, waren es heute vielleicht nur 50. Das war natürlich deutlich weniger, aber als wir sie bereits von Weitem sahen, drehten wir um und liefen stattdessen auf einen Hügel abseits der Altstadt. Von dort oben hatten wir einen wunderschönen Blick über die Stadt.

Hier begegnete uns niemand. Es war ruhig in den frühen Morgenstunden, ein nahegelegener Tempel öffnete gerade seine Pforten, und wir ließen die Stille dieses Ortes auf uns wirken. Endlich konnten wir es richtig genießen.

Ich glaube, was ich hier mache, ist Jammern auf hohem Niveau. Ich beschwere mich über Touristen – dabei sind wir ja selbst welche. Wir sind genauso Teil des Problems, tragen genau dazu bei, dass alles so überlaufen ist. Und doch fühlt es sich anders an, wenn man mittendrin steckt, wenn man merkt, wie sehr die Magie eines Ortes unter den Menschenmassen erstickt.

Japan ist gerade total im Hype. Wir haben kaum jemand aus unserem Freundes- und Verwandtenkreis, der nicht in dieses Land reisen will – oder es schon getan hat. Tokio hatte letztes Jahr offiziell mehr Übernachtungen von ausländischen Besuchern, als die Stadt überhaupt Einwohner hat. Das ist doch verrückt, oder? Wir hatten gedacht, dass es das Highlight unserer Reise werden würde. Doch jetzt, kurz vor unserer Abreise, müssen wir uns eingestehen: Japan liegt für uns auf dem letzten Platz.

Das zu sagen, tut fast weh. Aber es gab einfach zu viele Dinge, die uns den Aufenthalt vermiest haben – so sehr, dass wir irgendwann keinen Spaß mehr daran hatten. Und es liegt nicht daran, dass wir mit Menschenmassen nicht klarkommen. Wir waren vorher in China! 😂 Auch dort standen wir mit tausenden Menschen an den großen Sehenswürdigkeiten. Doch es fühlte sich anders an. Es war chaotisch, ja – aber auch echt. Es war authentisch, weil die Menschen um uns herum nicht nur Besucher, sondern Teil dieses Ortes waren.

Japan ist ein Land der Höflichkeit. Es ist ruhig, traditionell, konservativ. Zumindest empfinden wir es so. Und genau das macht es umso schmerzhafter zu sehen, wie wenig Rücksicht viele Touristen darauf nehmen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie sehr die Einheimischen in Kyotos Altstadt unter diesem Ansturm leiden müssen. In manchen Gassen sahen wir nicht einen einzigen Japaner – nur Touristen, die lautstark durch die Straßen liefen, auf geschnitzte Holzbalken oder kunstvoll gearbeitete Steinskulpturen kletterten, nur um das beste Foto zu schießen. Es war frustrierend. Kyoto hätten wir eigentlich mit Bewunderung verlassen sollen – mit dem Gefühl, einen ganz besonderen Ort erlebt zu haben. Stattdessen gingen wir mit einer negativen Grundstimmung.

Und dann waren da diese Gedanken, die sich immer wieder aufdrängten:
Was, wenn alles, was jetzt noch kommt, genauso wird?
Was, wenn wir kein authentisches Japan mehr erleben können?
Was, wenn wir von nun an nur noch von Touristenmassen umgeben sind – und das Land, das wir sehen wollten, gar nicht mehr existiert?

Und dann auch noch zu horrenden Preisen – bei schlechtem Wetter. Denn, als wäre das alles nicht schon genug, begann ab unserer Abreise aus Kyoto auch noch das miese Wetter: Regen, Schnee, grauer Himmel. Kaum noch Sonne. Es fühlte sich fast so an, als würde Japan uns nicht haben wollen.

Von Kyoto aus kauften wir am Ticketschalter ein Shinkansen-Ticket nach Kanazawa – die Stadt der Samurai.
Möglicherweise kaufte ich versehentlich zwei 1.-Klasse-Tickets anstatt welche für die zweite Klasse. Vielleicht kostete das Ticket dadurch doppelt so viel wie geplant. Aber zu meiner Verteidigung: Nirgendwo stand, dass “Green Car” die 1. Klasse ist! Ich dachte, “Grand Class” sei die erste Klasse – aber das ist dann die Premium-Klasse der ersten Klasse. 😅 Naja, immerhin war die Fahrt dadurch sehr luxuriös.

Ich kann euch schon mal versprechen: Kanazawa hat unsere Haltung zu Japan wieder ein wenig verbessert – und uns geholfen, das Land mit anderen Augen zu sehen.

Mehr dazu im nächsten Beitrag. 🙂

Liebe Grüße nach Hause!
Jessi & Sascha